Jun
27

Das ist meine Schwester, die hau nur ich!


Mit diesen Worten schoß ein Fünfjähriger aus meiner Kindergartengruppe auf einen sechsjährigen Freund zu, der gerade eine Dreijährige drangsalierte. Ich fand das schon deshalb interessant, weil die Geschwister in der Regel nicht miteinander spielten, eigene Freundeskreise hatten und sich offenbar nur beim Kommen und Gehen daran erinnerten, dass sie ja zu einer Familie gehörten. Aber wehe, einer tut der kleinen Schwester was ...

Der Satz kennzeichnet das Verhältnis vieler Geschwister und Familienmitglieder zueinander. Mag man untereinander noch so streiten, nach außen wird zusammengehalten. Bei meinen Kindern ist das auch nicht anders, manchmal scheinen sie sich gegenseitig umbringen zu wollen. Aber als der Kleine in den Ferien heulend nach Hause kam, weil ihn ein Nachbarsjunge gehauen hatte, sprang die Große sofort auf: "Zeig mir, wer das war, der kann was erleben!" Umgekehrt entriß der Kleine später einer Spielkameradin einen Ball: "Den nimmst du nicht mit, der gehört meiner Schwester und sie mag ihn sehr!"

Der Satz, den mein Gruppenkind damals absonderte, beinhaltet aber noch mehr - viel mehr als man auf dem ersten Blick meint. Kleine Streitereien untereinander sind ja völlig normal. Und wenn sie in der Familie oftmals heftiger ausgetragen werden als bei "bloßen" Freundschaften, so liegt das meistens daran, dass hier auch mehr Gefühle im Spiel sind. Verletzte Gefühle heizen einen Streit erst so richtig an und machen das Beilegen schwerer. Und dennoch - ist Mann am Not, werden oft alle bösen Worte vergessen und man ist wieder füreinander da. Das ist der Part "Das ist meine Schwester."

Nur darf man das "die hau nur ich" nicht vergessen. Häufig beinhaltet das nur die kleinen Reibereien, die schnell vergessen sind. Aber manchmal wird das "die hau ich" viel größer als das "meine Schwester!". Und viel zu oft werden die Aufgaben verteilt - dann ist einer für das Hauen innerhalb der Familie zuständig und ein anderer für den Zusammenhalt.

Meine Mutter hat das zweimal erlebt. Was mit ihrer Mutter los war, weiß ich nicht, aber mein Kommentar als 6jährige triffts wohl doch: "Ich glaub, die mag niemanden leiden." Das war das letzte Mal, dass ich ihr begegnet bin.

Meine Großmutter hatte drei Kinder, schien aber nur das jüngste zu "mögen" - lieben wohl nicht, meine Tante meinte später, sie habe zwar mehr Vorteile, aber nicht mehr Liebe bekommen. Meine Mutter und ihr älterer Bruder wurden zwar nicht vernachlässigt, aber wie mein Onkel einmal sagte "zur Unselbstständigkeit erzogen" - unter der ständigen Aussage, dass sie ja eh nichts zuwege bringen. Vor allem meine Mutter wurde viel gedemütigt, Leistungen wurden nicht anerkannt, Mißerfolge als Zeichen dafür gesehen, dass sie ja zu allem unfähig sei. Halt fand sie am älteren Bruder, der sich das nicht bieten ließ und am Stiefvater, der sie wenigstens anerkannte, wenn auch nicht ermutigte.

Meine Mutter fühlte sich freier, als sie ihre Lehre in einer anderen Stadt begann und feststellte, dass sie von Chefin und Vermieterin mehr Anteilnahme, Lob und Fürsorge erfuhr als zuhause. Selbst Mutter zu werden gab ihr weiteren Auftrieb, doch auch den wußte meine Großmuter bei einem Besuch zu zerstören. Ich, 15 Monate alt, war leicht erkältet und meine Mutter bekam heftige Vorwürfe, wie sie das hätte zulassen können. Mein Vater stand verdutzt daneben und verstand allmählich, warum meine Mutter so wenig Nettes über ihre Mutter zu sagen wußte. Nun, jede Predigt hat mal ein Ende, es gab Abendessen in gedrückter Stimmung, dann wurde geschlafen. Mein Vater wurde morgens wach, vermißte mich und suchte Schwiegerelterns Wohnung ab. Ich saß, nur mit Windel bekleidet, im Schnee auf dem Balkon und spielte mit meiner Großmutter.

Mein Vater nahm mich wortlos hoch, weckte meine Mutter und sagte nur: "Zieh euch beide an, ich packe!" Eine halbe Stunde später fuhren sie ab und das war - bis zum Tod meiner Großmutter - der letzte Kontakt. Ausnahme war jener Tag, den ich bei der Tante verbrachte, die damals noch neben ihren Eltern wohnte - und an dem ich feststellte, dass meine Großmutter niemand war, den ich hätte wiedersehen wollen.

Auch ein zweiter Kontakt wurde durch meinen Vater rigoros unterbrochen. Seine Tante war mit seiner Mutter zerstritten und diese Tante klammerte sich in der Not - der Rest der Familie hatte sich wegen ihrer Besserwisserei schon von ihr losgesagt - an uns, vor allem an meine Mutter. So weit, so gut, doch einige Jahre später versöhnten sich die Schwestern wieder. Meine Mutter wurde abrupt und dermaßen brüsk fallengelassen, dass mein Vater seine Tante anrief und ihr unmißverständlich erklärte, das wars, ein für allemal. "So lasse ich meine Frau von niemanden behandeln!"

In beiden Fällen kann ich meinem Vater nur recht geben. Familie bedeutet Zusammenhalt, zueinander gehören und füreinander dasein. Aber diese Last muss auf alle Familienmitglieder verteilt werden. Leider gibt es in vielen Familien Menschen, die es verstehen, die Vorteile zu genießen, nach außen geschützt zu werden, nach innen hauen und treten zu dürfen und selbst nie für andere dasein zu müssen. Denn ebenso gibt es auch immer wieder jemanden, der es für seine Pflicht hält, alle zusammenzuhalten, sich an jedem Streit unter den Mitgliedern schuldig zu fühlen; bei dem man sich über angebliche Ungerechtigkeiten beklagen kann und dem man alle Verantwortung und Schuld aufbürden kann - bis dieser Mensch die "Unverschämtheit" besitzt, unter der Last zusammenzubrechen, oder die Stärke, die ihn zermürbenden Kontakte abzubrechen. Oder aber dieser Mensch besitzt einen Ehepartner, der einmal durchgreift.

Eine Familie soll allen Familienmitgleider Halt, Wärme und Liebe geben. Sich aber für die Familie aufzureiben und kaputtmachen zu lassen, weil einige meinen, die anderen machen das schon - dazu ist keiner verpflichtet. geschrieben am 27.06.2017 von Masmiie

Schlagwörter

familie, schwester, schuld, verantwortung

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Kommentare von anderen Usern

Avatar Perkey schrieb am 09.07.2017 folgenden Kommentar:
Sehr schöner Beitrag