May
22

Déjà Vu - schon gesehen


“Mama, komm, es fängt an!” Meine Große hat es sich bereits mit Block und Stift und Teekanne auf dem Sofa bequem gemacht. Ich schnappe mir noch ein frisches Wollknäuel, am Strickzeug hängt nur noch ein Rest und sause zu meinem Sessel. Ein Blick auf den Monitor genügt mir. “Das fängt noch nicht an, Madam Ungeduld, das ist nur die Anwärmparty”, belehre ich meine Tochter. “Wie lang möchtest du die Socken übrigens haben?” Sie sieht kurz auf mein Strickzeug: “Naja, noch so zwei Zentimeter, dann kannst du die Ferse machen.”
Peter Urban begrüßt uns zum ESC. Einen Moment lang hören wir zu, dann kichert die Große. “Ist es Pflicht, dass die alle glitzern?” “Scheint der heutige Dresscode zu sein”, kommentiere ich trocken.
Beim dritten Auftritt stellt meine Tochter fest: “Auf jeden Fall schwarz oder weiß. Hat da einer die Farben geklaut? Und was hat die da für Haare?” “Sieht aus wie Sailor Moon”, sage ich. “Paß auf, gleich hat sie nen leuchtenden Pokal in den Händen und ruft, bei der Macht des Mondes werde ich dich bestrafen.” Das Lachen meiner Tochter übertönt fast das Hei-ho der Sängerin.

Moment mal - habe ich das nicht schonmal erlebt? Musiksendung, zwei lästernde Damen, während die Herren der Schöpfung längst im Bett liegen, Stricknadelgeklapper und einfach Freude am Zusammensein .... Da war doch was.

Meine Mutter war wie meine Große und ich eine Nachteule. Und oft saßen wir noch spätabends im Wohnzimmer und quatschten - wie meine Große und ich, nur sitzen wir meist am PC und weniger am TV. Den ESC verpassen wir aber ebensowenig wie damals meine Mutter und ich. Allerdings gabs noch einige andere Musiksendungen, die wir uns damals ansahen. Hitparade z.B. oder Disco. Den Anfang sah mein Vater oft mit an. “Der trägt immer so enge Hosen”, meinte er, als Rod Stewart ins Bild kam. “Damit alle seinen schönen Po sehen können.“ “Schön?“, protestierte meine Mutter. “Der hat nen Hintern wie´n Pferd!“ Noch heute bringe Rod Stewart mit dem Pferdehintern in Verbindung.
Am deutlichsten erinnere ich mich an Souvenirs, Souvenirs. Auch das kam zu einer Uhrzeit, zu der mein Vater und meine Geschwister schon schliefen. “Achte darauf, wenn sie ins Bild kommt”, rief meine Mutter aus der Küche, als Chris Howland Connie Francis ankündigte. “Sie hat ganz sicher keine Schuhe an.” Tatsächlich saß die zierliche junge Dame auf einer Tischkante, sang vom Spiel der Liebe und ließ die bestrumpften Füße baumeln. Nach dem letzten Ton sagte Chris Howland kopfschüttelnd: “Und immer ohne Schuhe. Immer ohne Schuhe!” Und wir verschütteten vor Lachen fast den Tee. Dann fragte meine Mutter: “Willst du den Pulli mit Raglanärmeln oder normal?”

Neulich habe ich ein Puzzle wiederentdeckt und hatte Lust, es mal wieder zu machen. Während mein Sohn sich über seine Hausis hermachte, suchte ich schonmal den Rand zusammen. Die Hausis gingen diesmal in Windeseile, denn er brannte darauf, mitzumachen. “Das ist aber schwer, das Puzzle, 500 Teile.” Naja, ich habe schon größere gemacht. “Mama, mach doch erstmal den Rand fertig”, mahnt er mich, als ich zwei Innenteile entdecke, die wahrscheinlich aneinander passen. Ich sehe, was er zusammenzufügen versucht und sage ihm: “Das geht nicht, der Tempel ist links, nicht rechts.” “Woher weißt du das?” Sein Erstaunen ist gerechtfertigt, denn ich kann von meiner Position aus das Bild auf dem Deckel gar nicht sehen. Aber dieses Puzzle war unser Liebling damals, ich habe es unzählige Male mit meiner Mutter gemacht. Ein Zettel in ihrer Schrift belegt noch immer, dass zwei Teile fehlen, Form und Farbe sind verzeichnet. Heute kann ich da mittels Scanner und Farbdrucker Abhilfe schaffen.

“Ich mach den Tempel, wenn du die Brücke machen willst”, verkündet mein Sohn, als wir endlich den Rand zusammen haben. Ich nehme ihm ein Puzzleteil weg. “Das gehört dann aber mir.” “Kann nicht sein, auf der Brücke stehen die Leute hinter dem Geländer und man sieht die Beine nicht.” “Das sind keine Beine, sondern Schulter und Arm der Dame unter der Laterne”, belehre ich ihn. So oft sind meine Mutter und ich auf dieses Teil hereingefallen, xmal haben wir den Menschen zum Bein gesucht, bis uns wieder einfiel, das ist ja ein Arm, auch wenn mans erst sieht, wenn das Teil am richtigen Platz liegt. Und so oft hat meine Mutter mich ermahnt, erst den Rand zu machen, weil man gerade bei diesem Puzzle sonst völlig durcheinander kommt. Wie damals habe ich mir gleich die Brücke reserviert, während sich mein Sohn nach dem Tempel mit ebensowenig Murren an den von mir ungeliebten Himmel macht wie damals meine Mutter. Und wie damals streiten sich nun mein Sohn und ich uns scherzhaft um die Teile: “Klau mir doch nicht immer den Himmel” - “Du Dapp, das ist mein Stück Fluss.”

Meine Mutter starb kurz nach der Geburt meiner Tochter, meinen Sohn hat sie nie kennengelernt. Meine Kinder bedauern oft, dass sie diese Oma nie erleben durften. Aber immer wieder denke ich, sie ist doch nicht wirklich tot - nicht, solange ich ihre Sprüche wiederhole, mein Sohn mich mit ihren Augen ansieht, meine Tochter die gleichen Eigenheiten aufweist wie sie - sie lebt in meiner Erinnerung, aber auch in uns allen weiter. geschrieben am 22.05.2017 von Masmiie

Schlagwörter

musik, mutter, erinnerung, puzzle

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Kommentare von anderen Usern

Avatar BlackPanther schrieb am 18.08.2017 folgenden Kommentar:
Ja, das wird Gruselig, wenn ich dan auchmal Kinder habe und die so sind wie ich oder Falko.

Avatar Snoopi schrieb am 25.05.2017 folgenden Kommentar:
@ladaci: Aber nicht "versehentlich" mitpuzzeln. ;-) *lol* Aber Du hast schon recht. :-)

Avatar ladaci schrieb am 23.05.2017 folgenden Kommentar:
Richtig schön geschrieben, Mas. Man hat das Gefühl daneben zu sitzen.