Nov
30

Du hast, was ich nicht habe


Und das will ich auch haben! Das ist bei vielen wohl der Gedanke, wenn sie andere beneiden. Seltsamerweise sieht man dabei immer nur, was der andere hat, aber nie, was der andere nicht hat.

Deutlich wurde mir das, als ich mit einer Freundin bei den Eltern ihres Freundes war. Die Mutter des Freundes sprach mit mir über die Eltern meiner Freundin und beklagte sich dabei, dass einige wohl alles bekämen und andere nichts. Schließlich wohnte die Familie meiner Freundin im eigenen Haus – für das sie auch massiv abzahlen mußten – und in schönen Möbeln – die von den beiderseitigen Eltern geerbt waren. Während sie selbst in einer Mietwohnung zwischen Preßspan leben mußte.

Zufällig wußte ich, dass sie mit ihrem Mann pro Jahr zwischen 5 bis 7Mal eine Kurzreise unternahm und erzählte ihr darum, dass meine Freundin seit etlichen Jahren nur eine Art Urlaub kannte – zu den Großeltern fahren, weil dort die Unterkunft umsonst war. Wer ein Eigenheim haben möchte, muß eben an anderen Enden sparen. „Ach Quatsch“, meinte die klagende Dame daraufhin. „Die fahren doch alle naslang ins Ausland!“ Nunja, die Großeltern wohnten nunmal in Dänemark und alle zwei Jahre ist bei mir jedenfalls nicht alle naslang. Aber das war eben das Problem – sie wollte einfach nicht sehen, dass andere auch auf Dinge verzichten mußten. Hätten sie und ihr Mann nur zwei Jahre lang die langen Wochenende zuhause verbracht, hätte es mit Sicherheit für teure Möbel gereicht und evtl. auch für eine Anzahlung aufs Eigenheim.

In der Berufsschule erlebte ich ähnliches. Der Lehrer wagte doch tatsächlich zu behaupten, dass Besserverdienende auch oft Überstunden ableisten müßten – unbezahlt. „Ach was“, rief jemand von hinten. „Die gehen doch 5 vor 5 nach Hause und lassen sich jeden Pups extra zahlen!“ Verdutztes Schweigen dann, als ich sagte, mein Vater arbeitet als Geschäftsführer – und ist abends selten vor 8 zu hause, fährt auch oft am Samstag noch ins Büro. Ohne Extrabezahlung, weil das einfach im Gehalt mit drin ist. Der Lehrer fügte dann noch dazu, dass man für derartige Berufe auch wesentlich längere „Lern“zeiten hätte und fragte mich, wann mein Vater das erste Mal wirklich hatte Geld verdienen können. Das konnte ich angeben:

Nach dem Studium, welches er sich mit Nebenjobs und Nachhilfeunterricht für niedrigere Semester finanzierte, konnte er dann endlich in einer Werft anfangen und etwas später reichte es dann aus, um die langjährige Freundin zu heiraten und eine Familie zu gründen. Das erste neue Mitglied war ich – geboren 11 Monate nach der Trauung – da war mein Vater 31 Jahre alt. Einem Fabrikarbeiter, der ab dem 16. Lebensjahr verdient, hing er um über ein Jahrzehnt des Verdienens nach – und das Geld wieder einzubringen, ist trotz des höheren Gehalts kaum noch machbar. Deutlich sichtbar für uns, als wir aufs Dorf zogen – der gleichaltrige Nachbar, zeitlebens Fabrikarbeiter, hatte sich sein Häuschen gekauft, wir konnten unseres nur mieten. Der Mann sah das auch deutlich und neidete meinem Vater das mittlerweile um einiges höhere Gehalt nicht im geringsten. Andere schon. Weil sie nur sahen, dass mein Vater mehr verdiente als sie, aber nicht, unter welchen Entbehrungen er sich das erkämpft hatte.

Massiv fällt es inzwischen bei den Kriegsflüchtlingen auf. Viel zu oft höre ich Klagen, die haben ja alles und bekommen alles. Mir erschließt sich bis heute nicht, wie man neidisch sein kann auf Menschen, die fast alles verloren haben – neidisch auf das bißchen, was sie retten konnten.

Auch davon habe ich schon vorher viel gehört. Mein Vater gehörte zu den Flüchtlingen, seine Familie stammt aus Masuren, welches damals von den Russen annektiert wurde. Meine Mutter als Hannoveranerin konnte an Ort und Stelle bleiben, solange Ort und Stelle noch hielten. So bekam ich die Kriegs- und Nachkriegsjahre von zwei Seiten erzählt. Und jede Seite war neidisch auf die andere.

So hatte meine Mutter das Bombardement miterlebt. Jahrlang schlief sie fast jede Nacht im Bunker, der Griff zu dem Koffer mit den wichtigsten Dingen wurde zur Routine, sobald Fliegeralarm ertönte. Das Haus wurde auch mehrmals getroffen, verkam fast zur Ruine, wohnen mußten sie da trotzdem. Obwohl von zwei Zimmern die Fassade fehlte (4. Stock!) und noch Jahre nach dem letzten Angriff sie und ihre Geschwister abends durch das Loch in der Wand den Nachbarn gute Nacht wünschten. Ihre Mutter war den ganzen Tag beschäftigt, irgendwie etwas Eßbares zu besorgen, in der Regel reichte es für zwei Scheiben Brot am Tag je Person. Und mehr als einmal kam meine geplagte Großmutter abends heim und fand meine Mutter heulend vor, weil der große Bruder ihr Brot gegessen hatte.

Dennoch wurden sie von den Flüchtlingen beneidet: Denn sie hatten ja noch ihre Heimat, welche die Flüchtlinge nicht wiedersehen würden. Dass sie ausgebombt waren und nichts Wertvolles mehr besaßen, mit dem sie etwas hätten eintauschen können, sahen die Flüchtigen nicht. Während meine Mutter sehnsüchtig auf die Kinder der Geflohenen sah, die wenigstens etwas zu essen hatten. Denn die meisten Flüchtlinge stammten aus Gegenden, die nicht zerbombt worden waren und sie hatten in der Regel ihre Wertsachen mitnehmen können. Nicht jedem ging es wie meiner Großmutter, die in der Hetze erst ihren Führerschein vergaß und dann auch noch eine Kiste mit einpackte, in der sie das Silberbesteck vermutete – in der sich aber heute wertvolle, damals aber nutzlose alte Bücher befanden. Dennoch hatte sie einige Wertsachen dabei und konnte sich wie viele Flüchtlinge das Benötigte eintauschen. Dafür wußten sie nicht, wo wohnen und viele – wie meine Großeltern – fühlten sich nie wieder wirklich zuhause. Und sie mußten sich eine neue Existenz aufbauen. Mein Großvater hatte seinen Laden verloren und arbeitete schließlich als Vertreter für Weine. Ein neues Geschäft aufbauen war einfach nicht drin.

Heute ist das nicht anders. Die Menschen fliehen aus den Kriegsgebieten, nachdem sie ausgebombt und von allen Seiten bedroht wurden. In vielen Ländern herscht heute Bürgerkrieg, zu den Waffen greifen und für seine Sache einstehen ist einfach nicht möglich, es gibt viel zu viele Parteien. Das bedeutet aber nicht, dass diese Länder zu Friedenszeiten Entwicklungsländer gewesen wären. Die Menschen hatten vor dem Krieg durchaus eine gute Bildung genossen, sie besaßen Land, gute Jobs oder eigene Firmen. Das Land, für viele die Ernährungsgrundlage, wurde annektiert, die Wirtschaft regelrecht zerschossen, die Familien zerstreut. Man packt also wie damals meine Großmutter die wichtigsten und wertvollsten Dinge ein. Dazu gehört vor allem das Handy, das man sich in besseren Zeiten hatte leisten können und welches die einzige Möglichkeit bietet, mit den anderen Familienmitgliedern in Kontakt zu bleiben.

Dann folgt die lange, mühsame Flucht, über den Balkan (übrigens ein Gebirge, für diejenigen, die sich nicht vorstellen können, wie beschwerliche diese Route ist!) oder übers Mittelmeer. Viele überleben es nicht, etliche landen in „vorläufigen“ Camps, die eigentlich nur eine Ansammlung Zelte auf Matsch sind und für Jahre bestehen werden. Rauskommen kann man nicht, auch in diesem Land gibt es keine Möglichkeit, zu arbeiten und sich etwas aufzubauen. Man kann sich nur in den Matsch setzen und abwarten, ob bessere Zeiten kommen. Hektisch wird also zusammengesucht, ob die geretteten Werte irgendwie ausreichen, um wenigstens einem Familienmitglied das Weiterkommen zu ermöglichen. Dann wird einer losgeschickt, in der Regel derjenige mit den besten Chancen – also zumeist junge, kräftige Männer, die gut zupacken können. Irgendwo wird man ja solche Leute brauchen können.

Und dann landen sie hier. Wieder in einem Auffanglager, aber wenigstens hat man 4 qm und eine Campingliege für sich und es gibt sogar ein Badezimmer, welches man nur mit 80 anderen teilen muss. Als erstes wird angerufen: Ich habs geschafft, ich bin in Deutschland und jetzt werde ich zusehen, dass ich was aufbauen kann. Irgendwie wird man schon mit den Alpträumen fertig werden, die einen noch immer jede Nacht Bomben sehen lassen, mit der Angst, die Oma hält im Lager nicht lange genug durch, bis man sie holen kann und der Sehnsucht nach Frau und den kleinen Kindern, die dauernd nach Papa fragen.

Nett sind die Menschen hier ja, aber langsam. Die Prüfung der Paiere dauert Monate. Essen und abgetragene Kleidung bekommt man ja, aber wann darf man endlich zum Deutschkurs? Und kann sich danach endlich nach einer Arbeit umsehen – verdammt, das Zeugnis von Zuhause gilt hier nicht. Nun heißt es, den Beruf nochmal zu erlernen, weil man nicht beweisen kann, dass man ihn schon beherrscht. Nochmal drei Jahre, hoffentlich übersteht die Oma das. Und nebenan der Nachbar hat jahrelang seinen Hof bewirtschaftet, nur hier sucht niemand Landarbeiter, er gilt hier als einer, der nichts kann.

Zum Glück hat man noch das Handy und erfährt so, wie es der Familie und den Freunden geht. Es gibt etwas Geld von der Regierung, so kann man den Vertrag bezahlen und gleich den von der Familie im fernen Lager mit, es wäre furchtbar, wenn die Verbindung abrisse. Die gebrauchte Kleidung paßt auch so einigermaßen, man fühlt sich fast wieder als Mensch. Auch wenn man sich fragt, wer wirft ein fast neues Tom-Hilfinger-Shirt weg, nur weil es aus der letzten Saison ist? Haben die Menschen hier dermaßen viel, dass sie teure Marken kaufen und die nach kurzer Zeit schon wieder in den Kleidersack tun?

Und dann trifft man auf Deutsche. Inzwischen versteht man sie auch ganz gut. Und kann nicht glauben, was man zu hören bekomt: „Ihr Flüchtlinge, ihr habts doch gut! Ihr braucht nicht zu arbeiten, der Staat gibt euch soviel Geld, dass ihr euch teure Markenkleidung und moderne Handys leisten könnt und das alles von den Steuern, die wir zahlen müssen! Ihr seid doch nur hergekommen, um auf unsere Kosten zu leben! Wir müssen im Kik einkaufen und ihr kauft euch von unserem Geld die besten Sachen – geht wieder nach Hause!“

Neid kann einen Menschen anspornen, mehr aus sich und seinem Leben zu machen. Aber wenn Neid nur dazu dient, andere Menschen zu diffamieren und er den Blick verstellt auf das, was man selbst hat, wenn Neid dazu führt, Menschen mit Hass zu verfolgen, die viel weniger haben als man selbst – dann ist Neid etwas Entsetzliches. geschrieben am 30.11.2017 von Masmiie

Schlagwörter

neid, steuern, flüchtlinge, reisen, eigenheim, haben

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Kommentare von anderen Usern

Avatar sanders schrieb am 30.11.2017 folgenden Kommentar:
Super geschrieben. Ich sehe das genauso

Avatar ladaci schrieb am 30.11.2017 folgenden Kommentar:
Wow, was für ein toller Roman! Thematisch stehe ich an deiner Seite und ich finde es sehr beruhigend, dass es tatsächlich noch Menschen zu geben scheint, die in der Lage sind, ein Gesamtbild zu sehen, denen das Leid und die Nöte anderer eben nicht egal sind.
Nur meist hört man die nicht, ließt sie nicht, weil es einfacher ist laut Blödsinn zu schreien, als leise zu denken und zu handeln.

Einer der besten Blogs, die ich je gelesen habe. Danke Masmiie!